16. Dezember 2020. Es beginnt der zweite harte Lockdown in Deutschland. Die meisten Läden müssen geschlossen bleiben – bis auf Lebensmittelhandel, Drogerien, Apotheken oder Optiker. Gleichzeitig kreuzen immer mehr Kleintransporter von DHL, Hermes und UPS durch die Straßen und verteilen Millionen von Päckchen – jeden Tag. Die Pandemie schneidet dem ohnehin angezählten Einzelhandel die Luft ab und ist gleichzeitig neuer Wind in die Segel von Amazon, Zalando & Co.

In manchen Läden hängen Zettel aus: „Kauft nicht bei Amazon“. Auf Facebook kursieren Posts wie: „Ich kaufe lokal“. In Zeitungsinterviews malen Händler Drohkulissen zu ihrem bevorstehenden Konkurs. Und wir Konsumenten shoppen weiterhin online. Immer öfter, immer mehr. Gnadenlos und ohne Rücksicht auf die nostalgische Tradition von Tante-Emma-Läden oder Inhaber-geführten Geschäften auf den Marktplätzen unserer schmucken Kleinstädte.

Das Gefühl will lokal. Der Verstand geht online.

Seit ein paar Jahren pendele ich zwischen der Großstadt München (wo wir wohnen), den Kleinstädten Deggendorf und Plattling (wo ich die Hälfte der Woche arbeite und wohne) und dem Dorf March (wo meine Mama wohnt). Das beschert mir regelmäßig drei verschiedene Einkaufs-Erlebnisse.

  • München: Alles ist zu Fuß erreichbar und verfügbar. In 10 Minuten sind wir am Ostbahnhof, in 20 Minuten am Marienplatz. Ein Auto brauchen wir nur zum Getränke holen. Wir bauen unser eigenes Gemüse an, gleich hinterm Tennisplatz. Wir kaufen wenig online. Ich selten, meine Frau regelmäßiger und vor allem bei Tennis Point…
  • Plattling und Deggendorf: Dort gehen wir zu Drogerien, Discountern oder zum Großmarkt Globus und kaufen nur Lebensmittel und Haushaltswaren; manchmal fahren wir zum Lagerhaus oder zum Bauern für Kartoffeln, Obst und Gemüse; Sonstige Dinge kaufen wir nie, weil das Angebot (Kleidung etc.) einfach zu wenig attraktiv ist. Zum Zeitvertreib kauf ich ab und an ein Buch im Buchladen.
  • March: Dort nehme ich Fleisch und Wurst aus der Metzgerei meiner Verwandtschaft mit und ab und an einen Laib Bauernbrot direkt vom Bauern. Ach ja, und ich lade einen Kasten vom heimischen Bier ein für den Münchner Haushalt (obwohl es die Biermarke auch in der Stadt gäbe). Ist das lokal einkaufen?

Mit unserem Einkaufsverhalten stehen wir nicht allein. Es wird schnell sichtbar, wer sich als Verlierer fühlen darf im aktuellen Wandel im Handel: kleine bis mittlere Geschäfte vor allem in kleineren Städten. Das gilt nicht nur in meiner niederbayerischen Heimat, sondern in ganz Deutschland und in der restlichen westlichen Welt.

Die vielen älteren Bürger der kleineren Städte wünschen sich, dass ihre Innenstädte so belebt bleiben, wie sie das in ihrer Jugend kannten. Doch die Einzelhandelsstruktur ist nur ein Spiegel der Bedürfnisse der Bürger. Und die brauchen heute vor allem Apotheken, Optiker, Hörgeräte-Läden, Drogerie-Märkte und ein paar Banken. Dazu gesellen sich Discounter und Supermärkte am Stadtrand – mit Tankstelle. Entsprechend sehen die kleinen und mittleren Städte heute aus.

  • Junge Menschen wandern ab oder kaufen vermehrt online – weil sie es nie anders gelernt haben.
  • Die mittleren Generationen propagieren zwar Unterstützung für den lokalen Handel, aber wenn es Spitz auf Knopf geht – die Zeit knapp wird oder man genau das eine Ding will, das nicht im lokalen Handel liegt – weichen auch sie immer öfter aus auf online Shopping. Lokale Verbundenheit findet ihre Grenzen immer öfter immer schneller.
  • Die älteren Mitbürger stellen zwar die Mehrheit und auch die größte Kaufkraft. Aber erstens sind ihre Bedürfnisse im Alter anders gelagert und zweitens haben viele Einzelhändler das Potential dieser Zielgruppe noch nicht entdeckt. Sie umwerben lieber jüngere Leute und die… —> siehe oben.

Ergeben wir uns diesem Schicksal oder gibt es vielleicht doch eine Zukunft für kleinere Geschäfte auch in kleineren Städten?

Sortiert euch neu 

Wir klagen oft über Dinge, die wir nicht verändern können: etwa Globalisierung oder Digitalisierung. Ja, es ist heute völlig normal, dass ich an jedem Ort dieser Welt jedes Produkte dieser Welt bestellen kann. Und dagegen sieht der kleine Händler in der kleinen Stadt verloren aus.

Wir dürfen aber nicht übersehen, dass es eine Reihe weiterer Trends gibt, die unser Konsumverhalten prägen und die möglicherweise gute Hebel bergen für Einzelhändler und für die Gestaltung ihrer Zukunft. Auf diese Trends können sie bauen:

  1. Immer mehr Menschen wohnen in großen Städten – und wollen mit gutem Service bedient werden.
  2. Wir ticken immer stärker „bio“ und „öko“ – und damit werden Argumente wie Nachhaltigkeit und Regionalität immer wichtiger.
  3. Der Anteil der älteren Menschen steigt – und damit verschieben sich Bedürfnisse und Zielgruppen.
  4. Wir sind immer öfter online – und erwarten, dass auch die Produkte und Händler online präsent sind.
  5. Wir definieren uns neu – und streben mit Werten und Lebensziel nach einem Wir-Gefühl, in dem jeder Einzelne seinen eigenen Weg findet. So wie individuelle Spieler, die sich zu einer guten Mannschaft formen wollen.

Ehrliches Selbstbild ist Basis einer Neuausrichtung

Diese Trends wirken miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Jeder Händler könnte sich auf einem Zettel aufschreiben, welche Stärken er momentan hat und wie er diese nutzen kann oder abwandeln sollte, um in dieser neuen Welt erfolgreich zu sein.

Welche Trümpfe hat der lokale Einzelhandel gegenüber globalen Online Händlern?

  • Lange, persönliche Kundenbeziehungen –> schaffen Vertrauen
  • Lange, persönliche Kundenbeziehungen –> schaffen Kenntnisse und Insights zu Bedürfnissen und Vorlieben der Kunden
  • Vor-Ort-Präsenz –> schafft Möglichkeit zum Probieren, Testen
  • Vor-Ort-Präsenz –> schafft Chancen für Einkaufserlebnisse (Service, Deko, Catering, Entertainment…)
  • Lokale Geschäfte können jederzeit ihre Aktivitäten online ausbauen und damit ihre Märkte, Vertriebskanäle und Services erweitern.

Vorsicht: Oft sprechen sich lokale Händler Eigenschaften zu, die sie zwar angesichts ihrer Funktion als Händler haben sollten – von denen sie aber in Wahrheit Lichtjahre entfernt sind. Ein Beispiel: Gerne werben lokale Händler mit kompetenter Beratung und freundlichem Service, weil man das von einem Händler erwarten darf. Und wie oft trifft es in der Realität zu?

Das ist so, als würde Schalke 04 sagen: Wir sind eine Fußballmannschaft und wir haben eine Offensive, die Tore schießt. Ja, möchte man meinen. Ist aber leider nicht der Fall.

Auf einen Zettel eine Landkare zum eigenen Geschäft malen

Das kann jeder. Das braucht keinen Computer, keine Programmierkenntnisse, kein Geld. Nur etwas Zeit und Konzentration – und Interesse für die Zukunft des eigenen Betriebs. In der Folge habe ich eine „Landkarte“ eines Betriebs aufbereitet. Es handelt sich um ein Modell ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Die gestrichelten Linien deuten an, wie die einzelnen Bereiche miteinander verbunden sind.

Das Vorgehen ist anwendbar auf jede Größe und Art von Unternehmen in jeder Branche. Inhaber oder Geschäftsführer können so eine „Landkarte“ für ihren Betrieb wahrscheinlich in wenigen Minuten aufzeichnen. Es führt einem das gesamte Geschäft regelgerecht vor Augen. Schwachstellen, Stärken und Chancen im digitalen und demografischen Wandel werden zügig sichtbar. Außer man verschließt die Augen davor und macht so weiter wie bisher. Dafür kann man Amazon nicht verantwortlich machen.

#digitalage #lokaleinkaufen #lokalstattamazon #demografischerWandel #digitalerWandel

Krisen bergen Chancen. Aber nicht für alle. Manche gehören zu den Verlierern, auch wenn sie das in der Öffentlichkeit verständlicher Weise anders darzustellen versuchen. Allen voran die klassischen Medien. So tönten Verlage, dass die Corona Krise die Leute wieder mehr lesen ließe. Die Sender freuten sich auf Zeiten, in denen wieder mehr TV geschaut würde. Radio wäre im heimischen Gefängnis der Entertainer schlechthin. Nur für Out-Of-Home Medien fiel keinem eine gute Gewinner-Story ein – angesichts himmelschreiend leerer Straßen und Fußgängerzonen. Kino wirkt rat- und hoffnungslos (wobei mit guter Maske nichts gegen Kino- und Theaterbesuche spräche).

Die Wahrheit ist: Die Zeiten waren schon vor Corona für traditionelle Medien nicht besonders rosig. Der Lockdown Ende März 2020 kam dann wie eine Prügelattacke in die Magengrube der schwächelnden Medien. Folgende Wirkungstreffer waren zu verzeichnen:

PRINT:

  • Das Lesepublikum ist eher 50plus und damit Risiko-Zielgruppe in der Pandemie. Diese Altersgruppe zeigte sich wenig bis gar nicht mehr in der Öffentlichkeit.
  • Krisenzeiten bedeutet für viele: Geld zusammenhalten. Investitionen in Abos gehören nicht zur Existenzsicherung. Wenn kein Kiosk offen hat und keine Menschen unterwegs sind, gräbt das den Zeitschriften den Vertriebsweg ab. Wenn keine Flugzeuge fliegen, braucht man auch keine Bordexemplare.
  • In Zeiten stündlicher Infektionszahlen-Updates spürt man erst recht, um wie viel zu langsam Print als Medium ist.
  • Die Werbekunden stornierten. Ganze Branchen wie Tourismus oder Automobile brachen komplett ein. Der Umsatz sackte nochmal zwei Etagen tiefer als im Vorjahr.

TV:

  • Die Berichterstattung im TV machte deutlich, dass den Privat-Sendern kaum Nachrichten-Expertise zugetraut wird. Corona ist ein Fall der öffentlich rechtlichen Sender.
  • Die Storni der Werbebranche führten zu 50% Umsatzverlust im zweiten Quartal. Und ich bin sicher, wenn man Gegengeschäfte und Beteiligungen herausrechnet, wird der Rückgang noch drastischer.
  • Wichtige Quotenbringer wie Fussball oder Promis finden nicht mehr statt.
  • Gewinner in der Welt des Bewegtbilds sind die Streaming Dienste wie Amazon Prime oder Netflix.

RADIO:

  • Ein Großteil der Reichweite wird morgens und abends mit Berufstätigen am Frühstückstisch oder im Auto erzielt. Die großen Radiostationen spüren den Homeoffice Effekt und verlieren fast alle sehr deutlich an Reichweite.

ONLINE:

  • Die Reichweiten vieler Seiten stiegen in den Monaten der Pandemie. Manche Publisher jazzten jede einzelne Infektion hoch, um sie zu Ad Impressions zu wandeln. Dieses steigende Angebot von Werbeflächen trifft auf sinkende Nachfrage seitens der Werbungtreibenden. Ergebnis: Preise und Erlöse fallen drastisch. Die ganze schöne Reichweite ist kaum mehr zu versilbern.

Wir sind mitten im Wandel der Medien

Die Branche hat versucht, die reale Entwicklung so lange und so gut wie möglich zu kaschieren. Nun stellt sich im Herbst 2020 unübersehbare Ernüchterung ein. Umsatz und Gewinn bei RTL und ProSiebenSat1 erleben Einbrüche. Ströer rutscht in die roten Zahlen. Die Verlage verlieren deutlich an Auflagen- und Werbeerlösen. Aber das ist noch lange nicht das Ende der Rechnung. Der Wandel wird sich verschärfen. Diese Auswirkungen wird Corona auf die Welt der Medien haben:

  • Immer mehr Printmarken werden aufgegeben. Ganze Verlage werden übernommen oder Insolvenz anmelden. Die, die weiter machen, werden erhebliche Einschnitte vornehmen in ihrem Portfolio und ihrer Mitarbeiterzahl.
  • Die Werbeerlöse in Print werden weiter sinken. Die Payrate, also was netto vom Brutto-Anzeigenerlös bleibt, vegetiert mittlerweile unter 20%.
  • Immer mehr Publisher werden Paid Content forcieren. Erfolgreich werden die sein, die gute Usability mit glaubwürdigen Inhalten und unabhängigen Journalismus verbinden. Neue Formate der Sorte Gabor Steingarts Morning Briefing und gute, leicht zugängliche und konsumierbare journalistische Angebote. Beispielsweise für Leute, die mit iPay per Doppelklick einen Artikel für 50 Cent kaufen.
  • Quoten und damit Werbeerlöse der privaten TV-Anstalten werden dauerhaft sinken. Die Nachrichten-Kompetenz verlieren Sie an die öffentlich-rechtlichen Sender (noch für 30 Jahre) oder Podcasts. Die Entertainment Kompetenz übernehmen außerdem die Streaming Dienste. Für die Privat-Sender bleibt eine Rolle für arg beschnittenes Unterschichten-TV.
  • Die meisten werbefinanzierten Online Medien werden andere Erlösquellen oder Finanzierungsmodelle suchen und deutlich schlanker werden. Allein über die Kombination aus Reichweite x TKP lässt sich keine Plattform mehr finanzieren.
  • Die mediale Macht und Meinungsführerschaft wird immer weiter atomisiert auf Kleinst-Anbieter und Influencer, die Millionen von Followern erreichen. Die Social Media Welt wird um weitere Plattformen wachsen und immer diversifizierter werden – Es war ja auch normal für uns, mehrere Hundert Titel am Kiosk zu finden oder Hunderte von Sendern auf der Fernbedienung.
  • Dadurch ändert sich auch die Landschaft der Zulieferer. Die neue Medienbranche braucht weniger Agenturen. Viele PR- und Kreativ-Agenturen erfahren einen Erdrutsch in der Auftragslage. Die Leistungen werden neu definiert und von neuen Playern übernommen.

Diese Phase der Veränderung wird hart und zäh bleiben. Nach Überwindung des Corona-Tiefs wird eine neue Medienlandschaft viel mehr Dynamik und Umsätze ausweisen als die Welt, die wir davor kannten. Jedes Unternehmen, jeder Betrieb kann aktiv seine Werbung und Kommunikation in die Hand nehmen. Das wäre auch schon vor Corona möglich gewesen. Aber da gab es noch viele Wandel-Verweigerer oder Schläfer.

Abwärts wie in einer Lawine

Je mehr Werbungtreibende in die Neuzeit rollen, desto schneller und gewaltiger verläuft der Wandel für die Medien während Corona: Neue Plattformen, neue Formate, neuen Mediennutzung, neue Geschäftsfelder, neue Produkte, neue Marken, neue Werte, neue Zahlungsmöglichkeiten…. Und je mehr das Neue sichtbar und erfolgreich sein wird, desto schneller wird die alte Welt verschüttet.

Google umwirbt in einem Spot im Herbst 2020 Einzelhändler und will ihnen helfen, mit digitalen Mitteln die Krise zu überwinden: beispielsweise eine Webseite aufzubauen mit guter Sichtbarkeit im Netz. Dieses breite Angebot von Google unterstreicht, dass die Zukunft auch für kleinste Händler in entlegensten Winkeln anbricht. Und diese Zukunft ist digital.

Agieren statt reagieren

Seien Sie bei den Gewinnern und werden Sie bereit für die Boom-Zeit ab 2022. Machen Sie sich jetzt fit für die neue Normalität der Medienwelt. Hören Sie auf, darüber zu jammern, dass die Welt immer digitaler wird. Entdecken Sie diese neue Welt mit all ihren Stärken und lernen Sie, mit den Risiken umzugehen und diese zu kontrollieren.

Sie brauchen das Internet. Das Internet braucht Sie nicht.

#digitalage #coronamediennutzung

November 2020: Gerade komm ich vom Friseur und habe wieder mal einen dieser Corona-Meldezettel ausgefüllt mit Namen, Telefonnummer und Besuchszeit. Das machte ich dieses Jahr oft in Biergärten, in Restaurants, vorm Fußball- oder Tennis-Training, bei Grenzkontrollen, in Hotels oder immer wenn wir meine Schwiegermutter aus dem Pflegeheim holten. So wie mir erging es sehr vielen Deutschen seit Beginn des ersten Lockdowns. Der erwischte uns im März 2020 völlig unvorbereitet. Erst mit der Zeit gab es Masken. Davor stritt man sich über den Wirkungsbeitrag von Masken, um zu vertuschen, dass wir nicht ausreichend Masken hatten. Wir begannen, schön langsam eine wacklige Infrastruktur für Tests und Messungen aufzubauen.

Seitdem erfassen Gesundheitsämter – per Zettel oder Excel – Daten von Infektionen und melden sie jeden Tag. Nur sonntags läuft es noch unrund, weil Gesundheitsämter auch in Pandemie Zeiten am Sonntag geschlossen bleiben. Bislang wurden, Stand Ende November 2020, rund 30 Millionen Tests durchgeführt. Unsere deutsche Corona-App war bald nach dem ersten Lockdown verfügbar. Ja, wir hätten eigentlich alles: Tests, Messinstrument und Daten.

Allerdings bleiben Datenerhebung und Management von Daten in unserem Land eine freiwillige Sache. Die einen machen mit. Die anderen kümmert es nicht. Da verhalten sich Bürger genauso wie ihre Landräte und Gesundheitsämter. Ranga Yogeshwar umschreibt das bei Maybrit Illner Ende November so: „Dass wir immer noch Zettel ausfüllen, wenn wir ins Restaurant gehen, ist im Zeitalter der Digitalisierung unendlich träge. Das ist, wie wenn man den Rasen mähen würde und dazu eine Nagelschere nutzt!“

Diese Haltung zieht sich durch alle Ebenen und Bereiche

  • Download der App? Freiwillig
  • Homeoffice Regelung? Freiwillig
  • Quarantäne? Mehr oder weniger freiwillig
  • Impfen? Freiwillig
  • Anwendung digitaler Tools in Gesundheitsämtern? Freiwillig
  • Skisaison abblasen? Nicht freiwillig!

Südkoreas Strategie hält unserer zögerlichen Haltung den Spiegel vor. Die Koreaner verfolgen konsequent die einfache Kombination aus Test, Trace, Treat. Wie gesagt: das Rohmaterial hätten wir.

  • TEST: Über 30 Millionen Test Daten und Test-Zentren zur Erhebung weiterer Daten
  • TRACE: Die Corona App und QR Codes könnten wir aufrüsten für die Rückverfolgung der Daten und zur Identifikation der Infektionsketten
  • TREAT: Die vorrangige und unmittelbare Behandlung der Betroffenen und der Hochrisiko-Zielgruppen. Und auch die strenge Kontrolle der Betroffenen. Was aber alles besser ist als ein Lockdown für alle.

Was uns im Vergleich zu Südkorea allerdings fehlt, ist der Zusammenhalt der Gesellschaft, der Respekt und die Rücksicht aller auf das Leben der anderen. Was wir als demokratische Freiheit der Rede und Meinungsäußerung reklamieren, wird von vielen Querdenkern&Co einfach missbraucht und ist nichts anderes als Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Mehr dazu im Podcast „Vorbild Südkorea“ ab Minute 4:50.

Das tägliche Spiel mit der Angst

Anstatt ein professionelles, datenbasiertes Management für die Kontrolle der Pandemie zu etablieren, spielen wir lieber Roulette und zittern jeden Morgen vor den neusten Zahlen vom RKI. Höher oder niedriger? Gewonnen oder verloren? Infektionszahlen und Inzidenzwerte mauserten sich zur täglichen Wasserstandsmeldung für unser Angst-Niveau. Auf pnp.de, der Online Ausgabe der Passauer Neuen Presse, schimmerte mitunter etwas Wettbewerbscharakter durch, als die Platzierungen der Landkreise Passau, Rottal-Inn oder Freyung im bundesweiten Ranking bekannt gegeben wurden. „Wir ham fei jetzt scho über 400“, höre ich die Worte eines Kollegen in meinen Ohren nachklingen. Erding? 430! Passau? 520! Fast wie beim Auto-Quartett.

Zur Tagesschau betreten Merkel, Söder, Laschet, Helge Braun oder Olaf Scholz die mediale Bühne und verkünden mit getragener Stimme die Zahlen. Sie beschwichtigen ihr Volk wie ehedem die Medizinmänner ihren Indianerstamm: Bitte durchhalten, damit wir ein schönes Weihnachten haben können. Sogar meine Mutter mit ihren 88 Jahren fragt: „Sind die eigentlich noch ganz dicht? Sollen wir uns erst abschotten, um dann Weihnachten unsere Gesundheit wieder aufs Spiel zu setzen?“

Reaktionen wie die meiner Mutter sind Zeichen dafür, dass Disziplin und Gehorsam der Deutschen bald ausgereizt sein werden. Und zwar nicht deswegen, weil die wirtschaftlichen Belastungen zu groß werden. Natürlich sind manche Branchen und Betrieben heftig betroffen. Und natürlich müssen wir dort als Staat helfen. Unser Mittel: Wir drucken und verteilen Geld mit der Gießkanne. Die viel bessere und wirksamere Hilfe läge darin, Wissen über Infektionsherde und -ketten aufzubauen, um so gezielt und nachvollziehbar Einschränkungen zu verfügen – anstatt ganze Länder, Landkreise und Branchen in den Lockdown zu schicken.

Die pauschalen Verfügungen, die eher auf Meinungen als auf Wissen bauen, steigern den Unmut täglich. Immer mehr Menschen gewinnen den Eindruck, die Regierung habe keine adäquaten Mittel gegen die Pandemie. Die Politik präsentiert sich ohne Matchplan und ohne Strategie. Die Verantwortlichen verlieren sich in ständig neuen und von Land zu Land wechselnden Regeln zur Eindämmung der Pandemie. „Wie lauten die aktuell gültigen Corona-Regeln in Ihrem Bundesland?“, wäre eine knifflige Millionen-Frage bei Günther Jauch.

Sehnsucht nach klaren Regeln

Wir sammeln und verwerten weiterhin keine Daten, bauen kein digitales Wissen auf und verzichten so auf Auswertungen für ein gezieltes Vorgehen gegen Corona. Wir müssen uns weiterhin auf zusammengeträufelte Zahlen aus den Gesundheitsämtern verlassen, die den Sommer nicht genutzt haben, um ihre digitale Leistungsfähigkeit aufzupäppeln. Meist weil die, die am Ruder sind, keine Lust haben auf Veränderung. Ein Trump hätte die Zählungen unserer Gesundheitsämter längst angefochten und sicher gewonnen.

Diese Weichheit und Unsicherheit lösen Frust und Empörung aus bei Händlern, Gastronomen, Kulturschaffenden und bei Normalbürgern. Haben wir den ersten Lockdown noch brav mitgetragen, erkennen wir nun immer öfter die Rezeptlosigkeit der Politik. Zu allem Überfluss bereitet diese schwammige Haltung den Boden für Verschwörungsideologen und Aluhutträger. Wenn die Argumentationslinie wacklig ist, wird man für Nörgler und Motzer leicht angreifbar.

Die Politik verkennt die Sehnsüchte und Bedürfnisse der Menschen. Ja, Weihnachten, wie viele Deutschen es kennen und lieben, ist in Gefahr. Aber wir könnten auf dieses Weihnachten genauso verzichten wie auf ein Oktoberfest, den Sommerurlaub oder das Geburtstagsfest. Die Menschen sehnen sich nach probaten Mitteln, nach klaren Ansagen und Verbindlichkeit für alle, nach gezielten Maßnahmen – und nicht nach Sippenhaft wie bei einem Lockdown.

Der Lockdown ist eine Bevormundung aller, tut vielen weh und hilft offenbar nicht so, wie wir uns das vorstellen. Eine Verpflichtung zur Bereitstellung und Verarbeitung von Daten wäre auch ein Stück weit Bevormundung, tut keinem weh und hilft genau dort, wo Maßnahmen gefragt sind.

Wir könnten sofort beschließen, dass die Corona App ab sofort Pflicht für alle ist, dass wir Bewegungsdaten sammeln und weiterverarbeiten. Wir müssten das Rad nicht neu erfinden. Es gibt erfolgreiche Vorbilder von Ländern, die so die Pandemie in den Griff bekommen haben.

Andreas Hentschel kommentiert die Lage auf Focus Online: „In Asien ist es so: Dort nehmen die Menschen die Freiheitseinschränkung in Kauf, ein Bewegungsprofil von sich erstellen zu lassen. In China wohl dauerhaft, in Südkorea übrigens nur für einen Zeitraum von zwei Wochen. Dafür dürfen sie ins Kino gehen, in die Oper, sie dürfen sich mit Freunden treffen und für ein paar Tage ins Wellnesshotel fahren.

Mit einem potentiellen Superspreader-Event wie dem Weihnachtsfest im Blick, finde ich ein Modell wie das in Südkorea durchaus überlegenswert. Und sei es nur für einen kurzen Zeitraum. Eines steht fest: Auf die Weihnachtsfeiertage, die in vielen Ländern in Fernost ein Anlass sind, sich mit Freunden zu treffen, haben die Asiaten in diesem Jahr einen recht entspannten Blick. Weil wir uns den modernen Möglichkeiten so verschließen, dürfen wir hingegen schon jetzt gespannt sein. Auf die Corona-Zahlen nach Weihnachten.“

Bleibt die Frage, wer eine notwendige Veränderung im Mindset und Verhalten der Deutschen anstoßen soll im Dezember 2020. Und wer sich auch traut, die Mehrheit der älteren Deutschen, die Hochrisiko-Gruppe sind, in die Pflicht zu nehmen. Denn genau dort ist der Wunsch nach Bestandswahrung am größten und die Bereitschaft zur Veränderung am kleinsten. 

#digitalage #coronamatchplan